Brief an Innenminister Friedrich

Nach seinen Äußerungen im Spiegel habe ich den folgenden Brief an Innenminister Hans-Peter Friedrich geschickt.

Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister Dr. Friedrich,

nach Ihren Äußerungen im Spiegel zu den Anschlägen in Norwegen möchte ich mich direkt an Sie wenden. Ich kann ihre Aussagen nicht wirklich nachvollziehen, und da Sie ja immer wieder fordern, man solle sich der Auseinandersetzung offen stellen, tue ich dies hiermit. Vielleicht stellen Sie sich ja auch und antworten mir.

Herr Dr. Friedrich, Sie und ich haben etwas gemeinsam. Die Anschläge von Norwegen haben bei Ihnen und bei mir die gleichen Gefühle hervorgerufen. Betroffenheit, dass ein einzelner Irrer mit verquerem Weltbild über sechzig Menschen tötet. Entsetzten, dass plötzlich aus dem Nichts mitten auf einer Insel Jugendliche regelrecht abgeschlachtet werden. Wut, dass die Anschläge nicht verhindert werden konnten. Aber auch Angst. Angst, dass auch hier ein Psychopath im Namen (s)eines Weltbildes Anschläge verübt. Ja, diese Gefühle habe ich genauso wie Sie und genauso wie viele andere Menschen in Deutschland.

Aber da hören unsere Gemeinsamkeiten auch schon auf. Sie ziehen andere Schlüsse aus den Attentaten als ich. Während Sie das Internet als potenzielle Gefahrenquelle ansehen und die Sicherheitsgesetze verschärfen wollen, teile ich eher den norwegischen Standpunkt, auch in diesen Zeiten lieber die Freiheit zu verteidigen. Wir beide liegen da weit auseinander. Vielleicht ist der Altersunterschied zwischen uns beiden schuld daran. Vom Alter her könnten Sie mein Vater sein. Während es in Ihrer Kindheit weltweit nur ganz wenige Computer gab, bin ich mit dem Internet groß geworden. Es gehört für mich einfach dazu. Es ist für mich normal, mich täglich im Internet zu bewegen.

Ein bisschen kann ich Ihre Skepsis vor dem Internet verstehen. Wer nicht damit groß geworden ist, sich nicht ständig im Internet bewegt, für den kann es etwas beängstigendes haben. Ein weltweites Netz mit einer Fülle von Informationen. So groß dass es niemand überblicken kann. Jeder ist mit jedem vernetzt. Daten werden in Sekundenbruchteilen quer über den ganzen Globus geschickt, über staatlichen Grenzen hinweg. Für die einen ist das faszinierend, für die anderen unter Umständen angsteinflößend.

Ihre Aussagen im Spiegel kann ich hingegen nicht nachvollziehen:

  1. „Politisch motivierte Täter wie Breivik finden heute vor allem im Internet jede Menge radikalisierter, undifferenzierter Thesen, sie können sich dort von Blog zu Blog hangeln und bewegen sich nur noch in dieser geistigen Sauce“, sagten Sie im Spiegel. Wer radikale und undifferenzierende Thesen sucht, der findet sie. Allerdings trifft das nicht nur auf die digitale Welt zu. Ist Ihnen schonmal aufgefallen, dass Ihr Zitat auch recht gut auf Stammtische passt? Also diese Treffen zur gemeinsamen Diskussion gesellschaftlicher Probleme und komplexer politischer Lösungskonzepte bei gleichzeitigem Konsum alkoholischer Getränke? So traurig es ist, aber die allermeisten Menschen wollen nur das lesen und hören, was ihre eigene Meinung bestätigt. Auseinandersetzung mit der gegenteiligen Meinung? Fehlanzeige. Das ist aber kein internetspezifisches Problem. Der CDUler ließt die FAZ und der Linke die Junge Welt. Ich finde es sehr löblich von Ihnen, dass Sie das Problem als solches erkannt haben und für eine stärkere Auseinandersetzung mit komplexen Thesen und gegenteiligen Ansichten plädieren. Nur irgendwie kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, Sie bezögen Ihre Aussage nur auf das Internet.
  2. „Wir haben immer mehr Menschen, die sich von ihrer sozialen Umgebung isolieren und allein in eine Welt im Netz eintauchen. Dort verändern sie sich, meist ohne dass es jemand bemerkt. Darin liegt eine große Gefahr, auch in Deutschland.“ Entweder man bemerkt etwas von der Veränderung und kann deshalb etwas über deren Anzahl und das Gefahrenpotenzial sagen oder man bemerkt es nicht. Dann kann man aber auch nichts über deren Anzahl sagen. So wie Sie diese Sätze gesagt haben, passen sie denklogisch nicht zusammen und klingen nur nach billiger Angstmache.
  3. Laut dem Spiegel machen Sie für die Bildung einer aggressiven islamfeindlichen Bewegung in Europa auch Islamisten mitverantwortlich. Sie werden mit den Worten zitiert: „Man muss auch sehen, dass der Missbrauch des Islam durch islamistische Gewalttäter dazu beigetragen hat.“ Wenn ich das richtig verstehe, ist das Christentum jetzt also mitverantwortlich, wenn sich nun eine aggressive christenfeindliche Bewegung bildet, da der Attentäter von Norwegen sich selbst als christlicher Fundamentalist bezeichnet!?
  4. Bei Ihrer Aussage, die Grundsätze der Rechtsordnung „müssen auch im Netz gelten“, frage ich mich, ob Sie als Jurist wirklich glauben, dass unsere Rechtsordnung nicht im Internet gilt. Was meinen Sie, warum werden Internetnutzer wegen Urheberrechtsverletzungen abgemahnt? Warum kann man im Internet Verträge schließen? Warum Kinderpornografie im Internet bekämpft wird? Einfach so, ohne Rechtsgrundlage, oder vielleicht, weil unser Recht auch im Internet gilt?! Ihre Aussage zeugt entweder von einem massiven Missverständnis oder von Böswilligkeit. Zu Ihren Gunsten gehe ich mal nicht von Letzterem aus. Versuchen Sie einfach ein Delikt zu nennen, dass in der „analogen Welt“ strafbar, in der „digitalen Welt“ aber straffrei ist!
  5. Ihre Forderung Blogger sollten „mit offenem Visier“ argumentieren, ist jetzt nicht ganz so neu und ist sogar schon umgesetzt. Das ganze nennt sich „Impressumspflicht“ und ist in §§ 5, 6 Telemediengesetz (TMG) und § 55 Rundfunkstaatsvertrag (RStV) geregelt. Jeder Blogger muss in seinem Blog seinen Namen und seine Anschrift angeben – so viel zum Thema rechtsfreier Raum. Dass sich nicht jeder daran hält, bedeutet nicht automatisch, dass es schärferer Gesetze bedarf. Oder fordern Sie auch schärfere Gesetze gegen Temposünder, weil sich einige Autofahrer nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten?!

Ich würde gerne Ihre Auffassung verstehen, kann es aber nicht. Ich habe den Eindruck, dass Sie anstatt besonnen zu (re)agieren eine angstgeleitete und polemische Politik betreiben.

Sie fordern einen Dialog, beziehen das aber lediglich auf die Zuwanderer. Vielleicht sollten Sie einen generellen Dialog fordern, „der allen gerecht wird, nicht nur der Minderheit, sondern auch der Mehrheit, die hier lebt“. Laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2011 gibt es heute nämlich 51,7 Mio. Internetnutzer in Deutschland. Das entspricht 73,3% der Bevölkerung. Die Mehrheit ist im Internet.

Der Zuwachs geht übrigens vor allem auf die Über-60-Jährigen zurück. Allein der Altersunterschied zwischen Ihnen und mir, kann also nicht der Grund für die unterschiedliche Auffassung in Bezug auf das Internet sein.

Mit freundlichen Grüßen

David Vaulont

Update: Hier ist die Antwort des Innenministers